noëlle aicher in der galerie jeanette catrina, stäfa

von michael guggenheimer

bereits zum zweiten mal stellt noëlle aicher, in den grosszügigen und hellen räumen der galerie jeannette catrina in stäfa aus. diesmal zeigt die künstlerin neben bildern auch eine auswahl von objekten.

noëlle aicher ist tag für tag von bildern und dreidimensionalen kunstwerken umgeben. in ihrem atelier im dachgeschoss eines eigenwilligen hauses in dietikon, wo ihre neuesten bilder entstanden sind, in ihrem früheren atelier in urdorf, in dem sie an den meisten der hier ausgestellten werke gearbeitet hat sowie im kunsthaus zürich.

das haus, in dem diese bilder und plastischen arbeiten heute entstehen, steht in zweierlei hinsicht auf aussergewöhnlichem fundament. da ist das gebäude, dessen basis einst ein privates hallenbad war. wer in den keller dieses hauses steigt, in dem noëlle aicher wohnt und arbeitet, staunt, wenn er die spuren eines schwimmbeckens entdeckt.

und dann befindet sich dieses haus an einer nahtstelle: wer in dieser jahreszeit zum atelierfenster hinausblickt, der sieht einen kleinen laubwald in herbstlichen farben in allen schattierungen, ein hügel steigt auf der anderen seite eines bachs in die höhe: am sonntag eine idylle, die zum aquarellieren von landschaftsbildern verleiten könnte. wer aber an werktagen abends oder morgens zum selben atelierfenster hinausblickt, traut seinen augen nicht: auf der anderen seite des bachs eine stehende autokolonne, bis zum atelier sind diese autos deutlich zu hören. im sommer ist im garten an ein friedliches malen nicht zu denken, wer hier künstlerisch arbeitet, muss zu gewissen stunden die atelierfenster schliessen. so liegt noëlle aichers atelier gleichzeitig in einer idylle und neben der hektik des zeitalters der berufspendler. noëlle aichers arbeiten liegen ebenfalls zwischen der idylle, die es nie wirklich gab und der realität des tagtäglichen lebens und diese kann manchmal schmerzen, wie einige ihrer arbeiten hier deutlich zeigen.

mehrschichtigkeit ist es, die haus, leben und werk von noëlle aicher prägt.

noëlle aicher wusste bereits als gymnasiastin, dass sie künstlerin werden will. freiwillig sucht sie das kunsthaus zürich auf, keiner ihrer klassenkollegen würde das in diesem alter tun, sie betrachtet bilder dort und zeichnet. sie lernt das kunsthaus mit der zeit so gut kennen, dass sie jahre später, da sie eine arbeit im kunsthaus aufnimmt, schildern kann, wo ein bestimmtes bild früher gehangen hat, das heute an einem anderen ort im haus zu sehen ist.

in der zeit, in der die anderen schulabsolventen die universität besuchen, jobbt sie, lernt die arbeitswelt und sich aus verschiedenerlei perspektive kennen. sie verkauft kunstgewerbliches beim heimatwerk, sie arbeitet in einer buchbinderei und in einer industrieschreinerei und für eine gartenbaufirma. dann ist sie im jura in einem bauernhof, wo der entschluss reift, jenem kindheitswunsch endlich nachzuleben. sie schreibt sich in der f+f zürich, der schule für kunst und mediendesign ein, zuerst nimmt sie nur an den abendkursen teil, dann folgt das vierjährige tagesstudium. der zeichenlehrer im gymnasium war der erste, der sie dazu ermunterte, sich mit kunst zu befassen. die malerin rosina kuhn ist an der kunstschule jene dozentin, die sie fördert und fordert.

es gab – wie das bei vielen künstlerinnen der fall ist – auch bei noëlle aicher jene phase, in der die kunst, das schaffen an kunstwerken zurückgebunden werden musste, das waren jene jahre, in der die kinder und die familie im vordergrund stehen mussten.

noëlle aicher ist heute wieder tag für tag von bildern und dreidimensionalen kunstwerken umgeben. nicht nur in ihrem atelier. wie nicht wenige andere bildende künstler und buchautoren ist noëlle aicher mehrmals in der woche im kunsthaus zürich anzutreffen, wo sie beruf und bilderlust verbinden, bilder und menschen beobachten kann, wenn sie in den sälen des kunsthauses darüber wacht, dass niemand einem bild zu nahe kommt, aber gleichzeitig besuchern des hauses bilder näher bringt, auf kunstwerke aufmerksam macht, erklärungen gibt.

fotografie, malerei, zeichnung und das experimentieren mit materialien im bereich dreidimensionaler arbeit prägen die arbeiten von noëlle aicher. bei den bildern sei eine werkgruppe besonders erwähnt: fotografie und malerei werden darin zu einem mehrteiligen bildganzen vereint, und bleiben gleichzeitig autonom und unvermischt nebeneinander bestehen. dazu sagt noëlle aicher: «das eine ruft das andere: ich habe da eine malerei von der ich weiss, sie kommt erst voll zum ausdruck, wenn ich sie mit dieser bestimmten fotografie zusammenbringe. dann geht eine zitterpartie los, bis ich erfahre, ob das negativ die vergrösserung mitmacht. wenn die fotografie nach einem bild ruft, ist die frage, ob ich das bild so hinkriege, dass es stimmt… das sind dann die wirklich spannenden fragen, echte abenteuer, mit offenem ausgang».

«mutterlandfarben» heisst der eigenwillige titel einer ihrer arbeiten. es ist ein triptychon: in der mitte eine fotografie, hier ist ein mann zu sehen, er kommt von irgendwoher, er schreitet, ist unterwegs, neben ihm steht ein kind, es ist ein mädchen, es schaut in die höhe, dort, wo jemand mit einer kamera gestanden haben muss, das kind wirkt unsicher, sein blick ist fragend. es ist winter, die obstbäume sind kahl, das feld ist schneebedeckt, es muss ein bild aus lang vergangener zeit sein. umrahmt ist die schwarzweisse fotografie von zwei bildern in öl, bilder in starken farben, rot und gelb dominieren, es sind die «mutterlandfarben». ist es die mutter des kindes, die vom oberen stockwerk eines hauses auf dem land diese fotografie gemacht hat? wir nehmen es an. die fotografie ist älter als noëlle aicher ist. wie der autor wilhelm genazino setzt die malerin fotografien von früher in manchen ihrer werke ein, erfindet bestehendes neu.

«am busen der zeit» ist der titel eines anderen bildes, wiederum eines dreigliedrigen werks. in der mitte auch hier eine alte fotografie, auch sie in schwarzweiss. eine grossmutter und ihr enkelkind wohl. die grossmutter ernst, blickt skeptisch drein, das kleine kind blickt den fotografen fröhlich an. rechts und links zwei in öl gemalte farbige kreise. wiederum eine geschichte, deren inhalt wir erfinden können. fotografie und malerei noch weitere zwei mal: «von nah und fern 1», «von nah und fern 2». gras auf der wiese, es könnte vorfrühling in den bergen sein. und daneben in grau-, weiss- und schwarztönen die schneewolken des vergangenen winters gemalt. ein blick nach unten auf die erde die fotografie, ein blick nach oben in den himmel das gemalte bild. oder jene bilder, in denen wir eine weinbergschnecke vermuten, zwei fotos, sie sind indes wohl eine einzige fotografie, die zweimal vergrössert wurde, aber anders zum einsatz gelangt ist. und in der mitte in hellen rottönen die von hand hingesetzte farbige interpretation. «vom vergessen» heisst der titel eines anderen bildes, in dem uns die muschel begegnet. grossformate in öl und kleinere, abstrakte bilder, farbenspiele, farben und formen in hellbraun und weiss, in rot und orangetönen.

und dann die plastischen arbeiten: «familienbildnis nr.1» lautet der titel einer installation, an der ein tischbein aus holz, ein weiteres aus metall sowie ein löffelchen zu erkennen sind. was bedeuten die beiden stuhlbeine? und was will das löffelchen bedeuten, das mit schwarzem faden umwickelt ist? ein stuhlbein in kaltem metall, ein stuhlbein aus holz, das metallene stuhlbein nicht wirklich verankert. «familienbildnis nr. 2» heisst eine andere plastische arbeit. ein hirschgeweih, schwarz übermalt, schwebt, entschwebt und ist zweifach durchbohrt und festgehalten. ein runder stein, er könnte aus dem bachbett des schäflibachs stammen, der sowohl an noëlle aichers wohnhaus vorbeifliesst wie auch an ihrem früheren atelier, ein brüchiger stein mit einer fläche, die mit blattgold bestrichen ist. und daneben liegend eine hohlfigur, eine art gefäss. es ist an uns, die beiden familienbilder zu interpretieren.

die plastischen arbeiten noëlle aichers sind neueren datums. drahtgeflecht, stoffe, farbe und gips sind die bestandteile dieser arbeiten. wenn schriftsteller schreiben, gerade vor kurzem wurde dies wieder mittels eines computerprogramms bewiesen, spielt biografisches immer wieder mit und eine rolle. das wird bei diesen arbeiten nicht anders sein. heute eröffnen wir zum zweiten mal in der galerie jeanette catrina eine einzelausstellung von noëlle aicher. wir lassen die geschichten und die schichten hinter oder unter den bilder auf uns wirken, nehmen sie wahr, weil sie uns gefallen oder versuchen, uns geschichten zurecht zu legen. in noëlle aichers atelier hängen werbeplakat für ausstellungen der luzerner malerin marie theres amici. noëlle aicher verfolgt das werk der von ihr bewunderten malerin seit jahren, mag insbesondere ihre grossformatigen ölbilder. wer weiss, in zwei oder drei jahren ist noëlle aicher wieder an diesem schönen ort hier mit weiteren geschichten, mit noch grösseren?