die frau mit der schürze

rede zur eröffnung der ausstellung von chantal michel im schloss kiesen am 13. juni 2009

ein bildband mit annähernd 250 seiten zeigt fotos von chantal michel. «chantal michel. werkdokumentation 1997 – 2007. band 1. fotografie» steht in grauen lettern auf schwarzem einband. auf fast allen bildern ist eine frau zu sehen, eine frau in unglaublich vielen positionen, in unterschiedlichen umgebungen, zum teil in stellungen, die seltsam anmuten: in einem kleiderschrank, eingerollt in einer zementröhre, gefährlich kauernd auf einer säule oder auf einer blumenvase, eingepresst unter den sitzen eines sofas oder unter einem orientteppich. sie sei keine fotografin, wehrt diese frau ab. und doch hat niemand anderer die fotografisch festgehaltenen situationen erfunden, sie dann kunstvoll arrangiert, die fotografierte frau geschminkt, deren kleider ausgewählt, die position der kamera bestimmt. nur den auslöserknopf musste manchmal eine andere person drücken.

chantal michael sagt, sie sei keine fotografin und doch liegt ein grosses fotografisches oeuvre von ihr vor. was ist sie denn? „video, performance, installation“ lautet der titel eines weiteren schwarzbuchs, dessen erste zeile wieder den namen chantal michael trägt. und wer die installationen kennt, sie in diesem zweiten band anschaut, ist froh, steht die künstlerin noch heute hier, denn die positionen, die diese frau in ihren so perfekten performances der letzten zehn jahre eingenommen hat, muten manchmal gewagt bis lebensgefährlich an, etwa dann, wenn sie hoch oben auf dem dach eines hotels balanciert, während stunden hoch oben an einer kahlen wand eines museums regungslos hängt. wer mit ihr zusammenlebt, der muss furchtlos sein und eine gehörige portion vertrauen in die zukunft haben.

wer sich der eingangstüre des schlosses kiesen bei thun an einem ganz gewöhnlichen tag nähert, wem die schlosstüre geöffnet wird, der steht einer freundlichen frau mit arbeitsschürze gegenüber, es könnte auch eine dienstmädchenschürze sein. die schürze erinnert an die 50er jahre des letzten jahrhunderts, man wähnt sich auf dem land, irgendwo in der schweiz und man ist auch wirklich auf dem land irgendwo in der schweiz, irgendwo zwischen den zeiten ist man hier. man steht in einem langen gang, an dessen ende man eine kleine balustrade sieht mit einem runden tisch und mit zwei stühlen, mit einem sonnenschirm und dahinter breitet sich ein weiter garten aus. gleich rechts bei der eingangstüre drei schwer geschmückte, farbige weihnachtsbäume und eine fotografie eines weihnachtsbaums. es ist ein heisser tag im juni und es weihnachtet sehr an der pforte dieses schlosses, hier ist alles etwas verspätet, es wirkt etwas süßlich dieser baum im sommer, etwas kitschig, dass es einem gleich behagt. man betritt den gang, sieht einen schummrigen nebengang mit mehreren stehlampen, die auch vereint nicht genügend licht spenden und die wieder an die zeit der 50er jahre erinnern, wo man doch sechzig jahre später da steht, und nicht weiss, bin ich hier oder dort, im damals oder im jetzt, ist diese frau mit der schürze aus dem jetzt oder aus dem früher, fotografin, hausfrau, küsterin, köchin, bedienstete oder gar künstlerin? man schreitet über weiche teppiche, von denen man nicht weiss, sind sie wirklich wertvoll oder stammen sie bloss aus dem brockenhaus, man entdeckt rechts und links gemütlich eingerichtete salons. oder sind es bloss seriell hergestellte polstermöbel, die man da sieht, man weiss es nicht, ist verunsichert, stellt sich fragen, ist’s ein schloss, in dem man sich bewegt oder ist’s bloss ein bild von einem schloss, stellt man sich bloss ein schloss vor? man kommt zur gartentreppe mit der zierlichen balustrade und sieht in der ferne auf dem gepflegten rasen neben einem stämmigen baum, halb versteckt, einen alten, schweren lastwagen, gewiss ein produkt der 40er jahre, denn so sieht kein wagen heute mehr aus. «georges wohnt dort», sagt die frau mit der dienstmädchenschürze voller überzeugung. also muss georges dort wohnen, dort im laster. georges geniesst gastrecht im schlossgarten von kiesen, die hausherrin, sie ist die einzige bewohnerin des schlosses, hat georges wohnrecht und asyl in ihrem garten gewährt. georges hat früher in einem nahen autofriedhof gelebt, er ist vor jahren wohl mit seinem militärlaster dort abgestellt und vergessen worden, seit kurzem ist er mit hilfe der frau, die welten baut und mit bildern und situationen geschichten erzählt, dem autofriedhof entronnen, jetzt kann er im schlossgarten spazieren. georges aber muss ein scheuer mensch sein, georges zeigt sich nicht. georges scheint alkohol zu mögen, denn die sammlung leerer flaschen in seinem wagen ist stattlich. verspeist georges auch katzenfutter, lebt georges ausschliesslich von büchsenkonserven? es sind fragen, die sich stellen, wenn man sich den laster näher anschaut, wenn georges gerade nicht da ist. im schloss kiesen ist heute alles möglich! georges ist entweder weit gereist oder hat freunde, die gerne ansichtskarten schreiben, denn sein lastwagen, in dessen fahrerkabine er offenbar zu schlafen pflegt, ist voll behängt mit ansichtskarten aus aller welt, karten schöner städte und attraktiver frauen aus der mitte des 20. jahrhunderts.

chantal michel, die frau mit der küchenschürze ist schlossherrin auf zeit. und sie hat ein ganzes schloss eingerichtet: salons, rauchzimmer, treppenhäuser, gänge, leseräume, schlafgemache, bäder und toiletten: eine frau lebt in einem anwesen mit 20 wohngemächern und mit acht jahrhundertwende-badezimmern und toiletten. ein haus voller bilder und geräusche, ein haus gefüllt mit gerüchen und geschichten. «chambre de monsieur et de madame», «chambre de rené», «salle d’étude» steht auf den kleinen kästen in den gängen des läutesystems für das haus- und servierpersonal. mais où est il monsieur? et qui est rené? und waren diese kästchen seit jeher hier oder wurden sie erst vor kurzem eigens für eine ausstellung installiert? existe-il ce monsieur? alles ist unsicher hier, so vieles ist doppelbödig in diesem anwesen, das chantal michel in den letzten monaten eingerichtet hat. wellenrauschen ist irgendwo im haus zu hören, irgendwo müssen sich grillen im haus eingenistet haben; meereswellenrauschen im schloss obschon wir uns weitab vom meer befinden, vogelzwitschern im gebäudeinnern, obschon hier keine vögel flattern, das unheimlich stete und unaufhörliche tropfen eines wasserhahns; in einem der schlafgemächer spricht ein unsichtbarer ohne ende seine abend- oder morgengebete, vielleicht ist es ein todesgebet – hier gehen abend und morgen, tag und nacht ineinander über. im ehemaligen gewächshaus am rande des gartens flucht ein unsichtbarer schlossgärtner ununterbrochen, weil ihm etwas nicht zu gelingen scheint, vielleicht auch weil er sich an einem der sukkulenten gestochen hat. aber wo sind bloss die stacheligen pflanzen, die töpfe sind doch alle leer, hier wächst nichts richtig, was macht der unsichtbar aber lautstark anwesende gärtner hier? grossformatige fotos hängen an den wänden der schlossräume, eine blonde frau schaut uns vielfach und in vielfältigen situationen an, ein einzige mal ist es ein mann, ein maskierter, es könnte auch die frau als mann sein, wer weiss, hier kann man leicht ebenen verwechseln, in diesem schloss kann man ins rutschen kommen, ohne auf einem treppenabsatz auszurutschen. ist es malerei im grossen salon mit seinen porträts? oder sind es bemalte fotos? malt hier jemand fotografisch oder fotografiert hier jemand malerisch? realität und phantasie gleiten ineinander über im château chantal.

und doch ist hier alles ganz handfest real. jeden samstag zum beispiel kocht die frau mit der schürze für schlossgäste, die an einem langen tisch sitzen und sich unterhalten. die frau, die ganz alleine im schloss lebt, hat das interieur dieses landsitzes, das jahrelang leer gestanden ist und vom verfall bedroht war, eingerichtet, sie wände neu gestrichen hat, hat räume mit so vielen möbeln gefüllt, dass man sich fragt, wie und wo eine person, die nicht mal einen fahrausweis oder ein auto besitzt, es geschafft hat, ein ganzes möbelhaus der 50er und 60er jahre des letzten jahrhunderts einzusammeln und hier zu platzieren. die frau, die lange alleine in diesem schloss lebt, ist heute von so vielen gästen umringt und von personal, das ihr hilft. sie belebt einen ort, sie lädt demnächst ein zu gesprächen, zu lesungen, zu konzerten, zu besichtigungen, sie verspricht überraschungen. guy krneta, ein wunderbarer erzähler, bei dem man nie weiss, ob er nun eine seiner geschichten in hochdeutsch oder schweizerdeutsch erzählt, wird hier als erzähler auftreten. die frau mit der dienstmädchenschürze hat eine welt aufgebaut. was heisst eine welt, sie hat welten aufgebaut, die verunsichern, die belustigen, die geheimnisvoll sind, die beängstigen, wenn einem etwa plötzlich ausgerechnet in einem schlafzimmer raubvögel und marder begegnen, die skurril sind, die phantasien erfüllen und anregen.

lust auf verwandlung ist allenthalben im schloss kiesen zu sehen. eine frau auf perfekt gestalteten grossformatigen fotografien, die sich von raum zu raum verwandelt, räume, die sich verändern. verfall und aufbau scheinen zwei eckpunkte der architektur zu sein, die chantal michel, die frau, die diese installationen, diese interieurs in detailverliebter arbeit eingerichtet hat, interessieren, sonst wäre sie nicht wiederholt auf bauten gestossen, die aufgegeben wurden oder die vor einem radikalen umbau oder vor dem abriss stehen. bauten, in denen sie sich und ihre welt einrichten konnte. diese frau, die veränderung, schauspielerei, zauberei und verwandlung liebt, die frau, die sich jene phantasie erhalten hat, die uns als kinder bereits in der realistischen falle ausgetrieben wird, hat sich immer wieder bauten ausgesucht, in denen sie sich und figuren neu erfinden und zur schau stellen kann. sie ist eine spielerin, die umgebungen verändert, neu arrangiert, verzaubert. die frau, die vorübergehend alleine hotelfluchten oder sogar ein schloss bewohnt, erwandert räume, in denen sie sich geschichten ausdenkt, nicht sprachlich erzählte, sondern mit objekten, gerüchen und geräuschen arrangierte. sie nimmt an jedem ort spuren auf, die sie neu aufmischt, kreiert, sie nimmt die aura von räumen auf und kann stimmungen schaffen und vermitteln. sie schafft mobiliar an aus alten und aufgegebenen hotels, sie organisiert teppiche und blumenvasen, lampen und schränke, betten und nachtische. damit setzt sie eine tätigkeit fort, die sie vor langer zeit in einem zwei-personen wandertheater quer durch europa begonnen hat: kleider ohne ende besitzt sie, hochzeitskleider, ballkleider, putzfrauenkleider, nachtkleider, solide und warme unterwäsche aus den 50er jahren, schuhe und perücken ohne ende. die frau mit der schürze könnte ganze theaterensembles einkleiden, die ihr schloss kiesen bevölkern könnten. aber sie zieht es vor, alleine hier zu wohnen. abends, wenn es dunkel wird, bittet sie ihre gäste das schloss zu verlassen. bloss georges darf hier bleiben. und damit er auch wirklich bleiben kann, denn seine finanziellen verhältnisse sind sehr prekär, bittet die schlossherrin sie ihm einen beitrag zu leisten: bei seinem laster sind formulare und couverts, packen sie doch die gelegenheit, einem mann, der auf sein mobilstationäres haus so angewiesen ist, einen geldbetrag zu geben, damit der lastwagen auch in zukunft sein zuhause und chantal michels eigentum bleiben kann.

michael guggenheimer, textkontor.ch, 13. juni 2009