pisten und wege

rede zur eröffnung der ausstellung naomi leshem im ausstellungssaal friedrichsbau, bühl (d)

heute eröffnet naomi leshem in diesem schönen saal ihre erste ausstellung in deutschland, in kürze wird eine weitere ausstellung mit anderen fotografien von ihr in tel aviv stattfinden, dann steht new york auf dem fahrplan mit einer ausstellung und fast gleichzeitig wird eine grosse ausstellung im museum „kunst-zeughaus“ in rapperswil in der schweiz zu sehen sein. zudem soll noch im januar ein zweites buch mit fotografien von naomi leshem erscheinen, fotoarbeiten, die begleitet werden von texten namhafter autorinnen und autoren aus deutschland, der schweiz, kanada und israel. ein erstes buch mit fotografien von naomi leshem und erläuternden texten ist vor einem jahr im renommierten verlag benteli in bern erschienen. die beiden buchgestalter jeffrey und andrew goldstein aus karlsruhe, die das erste buch der fotografin gestaltet haben und sich jetzt an die gestaltung des zweiten machen, sind hier. naomi leshems galeristin aus zürich ist heute ebenfalls hier in bühl anwesend, es ist sylva denzler, die die erste ausstellung unserer fotografin in europa gezeigt hat. ich weiss nicht, ob sie damals, als sie sich entschieden hatte, naomi leshems fotoarbeiten zu zeigen, ahnte, wie schnell der erfolg sich einstellen würde! und peter röllin ist auch da, der die kommende grosse ausstellung mit dem titel „«sleepers» kuratiert. herzlich willkommen sie vier! und ein besonderer gruss auch martin und renate bürkle aus bühl, die beim besuch von sylva denzlers galerie in zürich den entschluss gefasst haben, naomi leshems bilder hierher zu bringen!

«rückkehr». dieses wort, dieser begriff könnte ein schlüsselwort sein. naomi leshem begibt sich nach bühl an einen ort der trennung, an dem sie selbst zwar noch nie gelebt hat. sie kommt stellvertretend zurück und bringt ihre bilder mit. sie fasst fuss an einem ort, sie bringt eine familie nach bühl, die von hier vertrieben wurde. es ist der ort, an dem ihr vater geboren wurde, an dem ihr vater nur eine beschränkte zeit aufwachsen durfte, von dem er sich früh und unfreiwillig hat trennen müssen, der ort, wo er heute zu besuch weilt und wo seine tochter bilder zeigt. manche dieser bilder haben mit den themen trennung, verschwinden und rückkehr zu tun. naomi leshem setzt sich in ihren fotografischen arbeiten mit zuständen des dazwischens auseinander.

ich weiss, naomi leshems bilder haben mit bühl direkt nichts zu tun, sie wurden nicht hier aufgenommen, dabei wäre es spannend, ihr den auftrag zu geben, die stadt ihrer vorfahren väterlicherseits mit der kamera, mit der ihr so eigenen sichtweise, aufzunehmen. denn naomi leshems blick ist ein ganz besonderer, ein unbestechlicher. ihre bilder werden nämlich von keinem computerprogramm berührt, es findet hier keine nachbearbeitung statt: naomi leshems bilder – alle mit einer analogen kamera aufgenommen – zeigen unverfälscht das, was sie die fotografin wahrgenommen hat. naomi leshems arbeitsweise ist eine besondere. sie arbeitet sich von einem thema zum nächsten, sie setzt in ihrer arbeit schwerpunkte, verfolgt während längerer zeitperioden eine idee. das ist auch hier in bühl sichtbar.

drei bildstrecken zeigt naomi leshem in ihrer ausstellung «pisten und wege» hier in bühl. da ist die bilderfolge mit dem titel «way to beyond», dann die serie mit dem titel «runways» und als weitere bildersequenz jene mit dem namen «lizette».

da ist die bilderfolge «way to beyond»: ein stille wasserfläche, ein see im leichten dunst der morgendämmerung, in der ferne ein höhenzug und auf dem wasser ein boot. auf dem bootsdach haben sich die möwen einen platz gesucht, das boot wirkt nicht sehr seetüchtig. das schiff, dem man keine weite fahrt mehr traut, scheint auf dem wasser stehen geblieben zu sein. was hinter dem bild steckt? der see, es ist der see genezareth im norden von israel, ist ein abschiedsort: hier haben ein pilot und sein flugbegleiter mit ihrer düsenmaschine bei einem wendemanöver die höhe über wasser angesichts der starken blendung nicht richtig einschätzen können. eine flügelspitze des militärflugzeugs hat die seeoberfläche berührt, die maschine mit ihrer besatzung ist mit voller wucht im see zerschellt, die beiden männer, pilot und navigator, haben an dieser stelle, die naomi leshem zwölf jahre nach dem unfall aufsucht, ihr leben verloren. rückkehr als ein thema in naomi leshems arbeiten: rückkehr an den ort, an dem eine nicht gewollte, nicht geplante trennung für alle zeiten vollzogen werden musste.

naomi leshem ist in den bildern der bilderfolge «way to beyond» orten der trennung nachgegangen, orten zwischen tod und leben, orten der vergänglichkeit, an denen menschen zu leben aufgehört haben.

oder ein anderes bild dieser folge: zwölf stunden autofahrt nimmt ein elternpaar mehrmals im jahr auf sich, um jene stelle aufzusuchen, an der ihr sohn in einem anderen flugzeug zerschellte, als ein vogel in das triebwerk der maschine geriet und der pilot die beherrschung über den flugkörper verlor. beim wuchtigen aufprall auf dem wüstenboden hat die maschine einen tiefen krater gebildet, an dessen rand die eltern jeweils stehen bleiben. im sand glitzern manche stellen im gleissenden sonnenlicht, es sind die letzten sichtbaren überreste jener flugtragödie, kleine metallsplitter, die an den unfalltod erinnern. ein schöner ort, eine stille landschaft, eine stelle, an der die eltern ihren sohn innerlich suchen, an ihn denken, den abschied nochmals vollziehen. für unbeteiligte ein ort wie jeder andere. naomi leshem hat den ort festgehalten, nachdem sie mit den beiden gesprochen hat. anders als ein journalist oder eine schriftstellerin hält die fotografin die orte fest; es sind nicht sätze, es sind keine erzählungen, es sind bilder, deren bedeutung sich aus der erzählten geschichte erschliesst. orte des abschieds, deren bedeutung den hinterbliebenen, den trauernden und der fotografin vertraut ist.

orte der trennung, orte des abschieds, an die nach einer zeit der verarbeitung zurückgekehrt wird. das ist ein motiv auch aus dem leben ihres vaters, der heute wieder an dem ort ist, in dem die geschichte seiner familie nicht weitergehen konnte.

ein altes schwimmbad an der strandpromenade von tel aviv, ein nicht mehr benutztes meerwasserbecken, dessen wände in rissig blauer farbe leuchten, im hintergrund sonnenschirme, die ebenso wenig heute gebraucht werden wie eine wasserrutsche, die am bildrand zu erkennen ist. hierher kommt ein junger mann in begleitung unserer fotografin, um jenen ort aufzusuchen, an dem sein vater ertrank.

‹runways› heisst eine weitere bilderserie naomi leshems. mitten auf den abflug- und landepisten militärischer flughäfen israels hat sie sich postiert, um dort, wo düsenjäger und bomber unter mächtigem lärm starten und landen eine bilderfolge zu machen. auf halber bildhöhe berühren sich auf diesen fotografien himmel und erde. und immer ist auf der piste eine junge frau zu sehen – manchmal sind es auch zwei frauen – die sich auf dem rollfeld in richtung des horizonts wegbewegt oder wegrennt. es sind junge frauen, die die in israel obligatorische militärdienstszeit vor sich haben, friedliche frauen auf den pisten der todbringenden militärmaschinen. wieder treffen sich hier leben und tod, sein und verschwinden, eine motivkombination, die naomi leshems bildersprache prägt. die harten bremsspuren auf den pisten deuten jene wucht an, mit denen die flugzeuge zum anhalten gebracht werden. die landschaften zu beiden seiten der piste deuten die verschiedenen vegetationsregionen des landes an: wüstensand, meeresdünen, industrielle bauten am horizont, grüne hügel. auf einer einzigen fotografie dieser serie ist kein mensch zu sehen. weshalb das so ist, bleibt ein geheimnis der fotografin. ebenso wie die bilder, die sie von lizettes balkon aus festhält, sind auch diese fotografien alle zur mittagszeit entstanden, in jener stunde, da die pistenbeläge sengend heiss sind. die tageszeit ist mit absicht gewählt, denn die schatten der jungen frauen sollen auf den fotografien möglichst klein sein.

im jahr 2008 hat sich naomi leshem jeden monat zwischen dem 17. und 19. eines jeden monats am mittag an den rand der ortschaft petach tikva östlich von tel aviv begeben, um dort jeweils vom balkon einer wohnung im 17. stockwerk eines wohnhauses ein landschaftsbild einzufangen. jeden monat entstand so ein bild. die bilder dieser serie tragen als titel bloss datumsangaben. naomi leshem richtete ihre hasselblad gegen osten, um die landschaft zu fotografieren. in der ferne sind die weissen häuser der stadt ariel in den besetzten gebieten der westbank knapp zu erkennen. wer sich die bilderfolge anschaut, sieht, dass der grosse friedhof in unmittelbarer nachbarschaft der wohnsiedlung von petach tikva kontinuierlich wächst, wie neue grabreihen innerhalb eines monats hinzugekommen sind. zu sehen ist auch, wie der bau einer tiefgarage und neuer wohnhäuser voranschreitet. während sich im herbst die spuren von lastwagen auf den dürren wiesen vor dem friedhof noch deutlich in die erde eingraben, verschwinden die spuren gegen frühling mit jeder aufnahme, da die wiesen grüner werden. besucher des friedhofs sind auf den bildern zu erkennen, vorbeifahrende autos auf einer fernstrasse, am horizont die hügel samarias. es sind zeichen der veränderung einer landschaft. menschen werden beerdigt, andere nehmen in der nähe des friedhofs ihren wohnsitz. jede aufnahme zeigt den exakt gleichen ausschnitt der landschaft. und doch unterscheiden sich die aufnahmen stark voneinander. mal sind es dunkle winterwolken, die einen regenguss ankünden, ein anderes mal ist es der dunst des sommers und weht der unerträglich heisse chamsinwind über die ausgetrocknete, dürre ebene. naomi leshem hat die serie, die sie nach der besitzerin der wohnung ‹lizette› nennt, eher zufällig angefangen. es war das erstaunen über die weite der landschaft und über die nähe von friedhof und wohnsiedlung, die sie reizte.

schauen sie sich um, erleben sie die sichtweisen dieser mehrfach ausgezeichneten fotografin, lesen sie die schönen texte ihres oberbürgermeisters hans striebel und von herrn wolfgang jokerst in der broschüre, die eigens für diese ausstellung erstellt wurde. und kommen sie im februar nach rapperswil bei zürich, um sich die ausstellung mit dem titel «sleepers» anzuschauen!

michael guggenheimer, zürich, 7.10.2010